Der diesjährige Sprachtreff 2017 stand unter dem Motto „Pragmatische Störungen“. In insgesamt drei Fachvorträgen wurden unterschiedliche Aspekte und Perspektiven des äußerst komplexen Störungsbildes erörtert.

Den Eröffnungsvortrag hielt Prof. Dr. Stephan Sallat von der Universität Erfurt. Prof. Sallat verdeutlichte gleich zu Beginn, dass vielfältige Fähigkeiten notwendig sind und ineinander greifen müssen, um Sprache kompetent im Kontext verstehen und anwenden zu können. Er gab einen Überblick über die unterschiedlichen Elemente der Pragmatik (Semiotik, Kognition, Motorik und Sensorik) und Ebenen (intra-/interpersonell), die im Zusammenhang mit Pragmatik berücksichtigt werden müssen. Die TeilnehmerInnen erhielten einen Einblick in die Entwicklung pragmatischer Basiskompetenzen in den Bereichen der Sensorik, der Inferenz, der Theory of Mind, exekutiver Funktionen, des Gedächtnisses und der Emotionen. Mithilfe eines Videobeispiels des bekannten „still face“-Experiments veranschaulichte Prof. Sallat die nonverbale und paraverbale Dimension der Pragmatik. Des Weiteren wurde auch die Entwicklung der sprachlichen Dimension von Pragmatik, welche Aspekte wie Kohärenz, Präsuppositionen und Erzählfähigkeit umfasst, beleuchtet.

Insbesondere hier, aber auch insgesamt zeigte sich die hohe Relevanz pragmatischer Fähigkeiten für die Schullaufbahn. So betonte Prof. Sallat, dass der Auf- und Ausbau pragmatisch-kommunikativer Fähigkeiten als explizite Aufgabe in den Lehr- und Bildungsplänen formuliert wird (KMK 2004).

Anhand der Störungsprofile nach Dohmen (2013) zeigte Prof. Sallat auf, wie heterogen die Klientel in diesem Arbeitsbereich ist und dass pragmatische Störungen zum Beispiel im Zusammenhang mit Spracherwerbsstörungen, mit Autismus, aber auch als isolierte Störung auftreten können. Dementsprechend umfassend ist der Diagnostikprozess zu gestalten. Prof. Sallat stellte dazu einen Überblick über das diagnostische Vorgehen bei Verdacht auf pragmatische Störungen vor, das von einer ausführlichen Anamnese, über die Erfassung pragmatischer Basiskompetenzen, der Analyse sprachstruktureller Fähigkeiten zur Erstellung eines Profils der pragmatischen Fähigkeiten in den drei Bereichen „Kommunikations-/Gesprächsverhalten“, „(mündliche und schriftliche) Textverarbeitung und Textverständnis“ und „Situations- und Kontextverhalten“ führt. Abschließend gab Prof. Sallat einen Ausblick auf mögliche Vorgehensweisen in der Therapieplanung, bei denen er unter anderem zwischen indirekten und direkten, eher metasprachlich orientierten Ansätzen unterschied. 

Der Vortrag von Prof. Dr. Sallat wird als Beitrag in der Praxis Sprache erscheinen. Weiterführende Informationen finden sich auch in dem 2016 erschienenen Grundlagenwerk zu pragmatischen Störungen, bei dem Prof. Sallat Co-Autor ist:

Achhammer, B., Büttner, J., Sallat, S., & Spreer, M. (2016). Pragmatische Störungen im Kindes- und Erwachsenenalter. Stuttgart: Thieme.

Nach diesem Einführungsvortrag befasste sich der zweite Vortrag von Dr. Anja Schröder, TU Dortmund, mit dem Aspekt der Diagnostik. Anhand des Dortmunder Beobachtungsinstruments zur Interaktion und Narrationsentwicklung (DO-BINE, Quasthoff et al. 2011) veranschaulichte Frau Dr. Schröder die Erhebungsmöglichkeiten mündlicher Erzählfähigkeiten in Bezug auf interaktives Erzählen von Erlebtem. Frau Dr. Schröder fokussierte in ihrem Vortrag die global-strukturelle Dimension von Erzählungen, da diese die größte Relevanz im Zusammenhang mit pragmatischen Fähigkeiten darstellt. Sie gab einen Überblick über die Entwicklungsschritte in diesem Bereich und veranschaulichte anhand eines Wippenmodells die Rolle und Aufgabe eines (erwachsenen) Zuhörers, der durch unterschiedliche Nachfragen und Reaktionen auf das Erzählte Hilfestellungen im Aufbau von Erzählkompetenzen bietet. Die Erfassung dieser Teilfähigkeiten erfolgt auf zwei Ebenen: der organisatorisch-funktionalen Ebene (Welche Art von Hilfestellungen oder sogenannten Zugzwängen durch den Kommunikationspartner sind notwendig, um dem Kind eine Erzählung zu entlocken?) und der thematisch-inhaltlichen Ebene (Werden die relevanten inhaltlichen Aspekte des Erlebten erwähnt? Erzählt das Kind responsiv, teil- oder nonresponsiv?).

Frau Dr. Schröder verdeutlichte, dass bei Kindern mit Spracherwerbsstörungen die Handhabung eines solchen Beobachtungsinstruments angepasst werden muss und stellte die Ergebnisse eines entsprechenden Forschungsprojektes vor. Zusammengefasst ergab sich für die Anwendung bei Kindern mit Spracherwerbsstörung eine Veränderung in den Vorgaben für (zulässige) Zuhörerrückmeldungen mit der Konsequenz einer veränderten Leistungsbeurteilung und einer Ausdifferenzierung der Auswertung im unteren Leistungsbereich. Die Normierung des Verfahrens (DO-BINE-SuM) ist in Arbeit. Ziel des Verfahrens ist es, ein Erzählprofil zu erstellen und in den einzelnen Teilkompetenzen konkrete Förderbedarfe ableiten zu können. Ein darauf abgestimmtes Förderkonzept existiert bereits (DO-FINE, Quasthoff et al. 2011).

Weiterführende Informationen zu DO-FINE finden sich zum Beispiel in der Verbandszeitschrift der dgs „Praxis Sprache“: Schröder, A.; Katz-Bernstein, N.; Quasthoff, U. (2014). Erzählen: Ein „Spiel für Kinder“, aber kein „Kinderspiel“. Aufbau der Erzählkompetenz mit Kindern mit Spracherwerbsstörungen anhand des Dortmunder Förderkonzepts zur Interaktions- und Narrationsentwicklung (DO-FINE). dgs Sprachheilarbeit Praxis Sprache, 4, 229-238.

Ein Artikel von Anja Schröder und Nitza Katz-Bernstein zum Therapiekonzept DO-TINE erscheint in der nächsten Ausgabe der Online-Zeitschrift „Sprachtherapie aktuell“ des dbs.

Der Vortrag von Dr. Anja Schröder wird ebenfalls in einem Beitrag  in der Praxis Sprache erscheinen.

Durch die köstliche und reichhaltige Verpflegung in der einstündigen Mittagspause gingen die TeilnehmerInnen gut gestärkt in die Mitgliederversammlung.

Als „Wachmacher“ trat im Anschluss an die Mitgliederversammlung die Erzählerin Selma Scheele auf. Sie brachte den TeilnehmerInnen die Erzählkunst näher und schaffte es mit ihren Geschichten über Liebe,
Wahnsinn und Kakerlakenfrauen, die Zuhörerschaft in ihren Bann zu ziehen.

Eindrucksvoll nutzte sie ein ganzes Repertoire an verbalen, nonverbalen und paraverbalen
Kommunikationsmitteln, um
ihren Geschichten Leben einzuhauchen.
Das gelang ihr bestens, sodass auch eingeworfene Sequenzen auf Türkisch dem Verständnis der Geschichte keinen Abbruch taten. Die TeilnehmerInnen applaudierten begeistert am Ende ihres Auftritts und wir stimmen Frau Scheeles Motto absolut zu: „Der Erzähler schreibt mit der Zunge, und die Luft ist sein Papier.“ (Ben Haggarty, Erzähler)

Den Abschlussvortrag hielt im Anschluss Dr. Bettina Achhammer von der LMU München. Passend zum vorangegangenen Schauspiel stand im Fokus des Vortrags die von Frau Dr. Achhammer konzipierte und evaluierte Therapie pragmatischer Fähigkeiten mit Techniken des Improvisations-Theaters (Therapie-PraFIT). Zunächst verdeutlichte Frau Dr. Achhammer das Ziel der therapeutischen Bemühungen: ein situations- und kontextangemessenes Sprachverhalten. Dazu sei der Ausbau sprachlicher Komplexität und Flexibilität in Bezug auf den Inhalt, die Situation und die Personen unabdingbar. Als Therapiebereiche führte sie folgende drei auf: „Kommunikationsverhalten/Gesprächsführung“, Textverarbeitung/-verständnis“, „Situations- und Kontextverhalten“. Entlang der Störungsprofile von Dohmen (2013) führte Frau Dr. Achhammer drei Störungsprofile genauer aus und gab einen Überblick, welche Elemente bisheriger therapeutischer Ansätze sich je nach Profil anbieten. Bei Kindern, die pragmatische Auffälligkeiten begleitend zu ihrer Spracherwerbsstörung aufweisen, liegt der pragmatische Anteil der Therapie häufig in dem Transfer linguistischen Wissens in die spontansprachliche Anwendung. Bei Kindern, deren Schwierigkeiten primär im Bereich der pragmatischen Fähigkeiten liegen (Profil 3 und 4), zeigte sich in den vorgeschlagenen Therapieelementen unter anderem eine große Nähe zu psychotherapeutischen Ansätzen.

Nach diesem Überblick lieferte Frau Dr. Achhammer konkrete Einblicke in die Vorgehensweise der Gruppenintervention Therapie PraFIT für Schulkinder. Anhand von Videobeispielen zeigte sie für die drei Ebenen der Therapie mögliche Übungsformate auf. Für die Ebene der „Eigen- und Fremdwahrnehmung“ zeigte sie ein Beispiel eines nonverbalen Ballspiels, bei dem die Übergabe nach Blickkontakt und nonverbaler Absprache erfolgte. Danach folgte ein Gestaltspiel „Ich nehm‘ den Baum mit“ zur zweiten Ebene der „Sprachverwendung im Kontext“. Als drittes Beispiel zeigte sie ein Format, bei dem ein Kind einen Schriftsteller/ Erzähler mimt und ein weiteres Kind diese Vorgaben ausagiert (Übung: „Schreibmaschine“), das der Ebene 3 „Erzählen/Story Telling“ zuzuordnen ist.

Abschließend gab Frau Dr. Achhammer den engagierten Praktikern noch ein paar Ideen mit, wie sie unmittelbar im Anschluss an die Veranstaltung „loslegen“ und gängige Spiele/Spielformate für ihre therapeutische Zwecke gebrauchen können und rundete die Veranstaltung gelungen ab.   

Weiterführende Informationen zu Therapiemöglichkeiten und zur Therapie PraFIT finden Sie in:

Achhammer, B., Büttner, J., Sallat, S., & Spreer, M. (2016). Pragmatische Störungen im Kindes- und Erwachsenenalter. Stuttgart: Thieme.

Achhammer, B. (2014). Pragmatisch-kommunikative Fähigkeiten fördern: Grundlagen und Anleitungen für die Sprachtherapie in der Gruppe (1. Aufl). München [u.a.]: Reinhardt.

Eine online frei zugängliche Kurzzusammenfassung von PraFIT findet sich z.B. auch in dem dgs-Kongressband von 2014:

Achhammer, B. (2014): Förderung pragmatisch-kommunikativer Fähigkeiten bei Kindern – Eine gruppentherapeutische Intervention mit Methoden des Improvisationstheaters

In: S. Sallat; M. Spreer; C.W. Glück(Hrsg.): Sprache professionell fördern. kompetent-vernetzt-innovativ. Idstein: Schulz-Kirchner. Idstein: Schulz-Kirchner, 142-148

Online verfügbar hier

Auch der Vortrag von Dr. Bettina Achhammer wird als Beitrag in der Praxis Sprache erscheinen.